Rezension

Dirk Alvermann (Hg.), „… die letzten Schranken fallen lassen“, Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus, Köln Weimar Berlin 2015, 407 Seiten, 55,- Euro

Buchcover "...die letzten Schranken fallen lassen"In der gründlichen und umfassenden Darstellung der Universitätsgeschichte Greifswalds wird u.a. auch das „Euthanasie“geschehen an den dortigen Leichenfunden in der Anatomie aufgearbeitet.

Von Barbara Degen

Als westdeutsche NS- Und „Euthanasie“-Forscherin stehe ich häufig vor dem Problem einer absolut mangelhaften Quellenlage. Unterlagen sind verschwunden oder nicht auffindbar, die Forschungen, insbesondere auch zu den Universitäten begannen im Westen in der Regel erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und glichen und gleichen häufig der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Privatarchive erschweren nicht selten den Zugang zu ihren Akten. Umso erfreulicher ist das Beispiel der Universität Greifswald, der sich die umfassende und sorgfältig recherchierte Darstellung widmet.

Greifswald ist kampflos und ohne Bombardierung an die Rote Armee übergeben worden, die Unterlagen der Universität wurden offensichtlich gesichert. Damit sind die Beiträge des Buches zu der „kleinsten Universität“ des Deutschen Reiches ein wichtiger Beitrag zur gesamten Universitätsgeschichte in der NS-Zeit und der Aufarbeitung nach 1945. Bereits die Fülle und Vielfalt der Beiträge ist eindrucksvoll. Sie reichen von Studien zur Lage der StudentInnen, dem NSD Studentenbund, über die Berufungspolitik, anschaulichen Biographien der Hochschullehrer, die Auswertung der Satzungen und Vorlesungsverzeichnisse bis zu Themen wie „Wissenschaft und Krieg“, die Aspekte des Ausländerstudiums und den Verbindungen ins Ausland, z.B. den schwedisch-deutschen Verbindungen in der Medizin, den Nordischen Auslandsinstituten und zu den Zwangsarbeitern an der Universität.

Der Biographie eines Opportunisten, des Philosophen und Erziehungswissenschaftlers Walter Schulze-Soelde (1888-1984), nähern sich Andreas Pehnke und Ulrich Wiegmann an (S. 370 ff.). Seine Schriften und seine Anpasssung in der Weimarer Zeit und in der NS-Zeit spiegeln Gedanken wider, die sich mit nationalsozialistischem Gedankengut scheinbar im Gegensatz befanden. Gleichzeitig war er Nationalsozialist und geriet dabei „weiter in die Untiefen nationalsozialistischer Weltanschauung hinab“, wie die Autoren u.a. an seinen Ausführungen zur Erziehung und „Eugenik“, dem Krieg und zur Philosophiegeschichte zeigen. „Revisionskompetenz“ ist der Begriff, den Pehnke und Wiegmann für diese Widersprüche finden.

Stephanie-Thalia Dietrich widmet sich in ihrem Beitrag der quantifizierenden Analyse der Studierenden unter besonderer Berücksichtigung des Frauenstudium (S. 70 ff.). Ihre Graphik der Immatrikulationszahlen zwischen 1927/28 und 1949/50 zeigt ein „Auf und Ab“ mit den Höhepunkten 1944/45 und dem Tiefpunkt um 1937/38. Dabei haben sich auch die Schwerpunkte des gewählten Studienfaches verschoben. Während beispielsweise die medizinische Fakultät 1942/43 die höchste Studierendenzahl aufwies, war der entsprechende Anteil 1949/50 am geringsten. Auch die Herkunftstabelle nach der Art der sozialen Zugehörigkeit mit den Schwerpunkten „akademisch gebildete Funktionseliten“ (32%), „Beamte, Angestellte, Verwaltung“ (23%) und den „Führungskräften“ (8%) ist informativ und belegt das Fazit der Autorin: „Von einer `Öffnung der Hochschulen` für Kinder aller Schichten während des Nationalsozialismus kann in Bezug auf Greifswald keine Rede sein.“

Die Entwicklung des Frauenstudiums ist ebenfalls aufschlussreich: Eine Trendwende bis zu fast 50% für die Frauen gab es in allen Fakultäten. Dabei strebten die Frauen während ihres „Immatrikulationsbooms“ vor allem in die geisteswissenschaftlichen Fächer (Philosophie). Den Anstieg in der medizinischen Fakultät mit der Spitze 1944/45 erklärt die Autorin aus kriegsbedingten Gründen. Insgesamt diagnostiziert sie für diese Entwicklung rechtliche Bedingungen, wie die Zulassungsvoraussetzungen, sowie äußere Umstände wie die Kriegsfolgen. Sie schließt ihre Untersuchung mit der spannenden Frage, wie sich die beobachtenden Trends auf das Selbstverständnis und die Profilbildung der entsprechenden Fächer ausgewirkt hat, eine Frage, die sie leider offen lassen musste.

Bemerkenswerte Funde sind die „Unterlagen in russischen Archiven zur Untersuchung der sowjetischen Militärkommission im anatomischen Institut der Universität Greifswald“ aus dem Jahr 1947 (Vladimir Vsevolodov, S.280 ff.), die Auswertung der entsprechenden Protokolle (Britta Holtz, S.291 ff.) und die zusammenfassende Darstellung von Dirk Alvermann unter dem Titel „Praktisch begraben“ – NS-Opfer in der Greifswalder Anatomie 1935 – 1947 (insgesamt S.280-311). Er beschreibt, die Funde der Leichen und Leichenteile und wie damit umgegangen wurde. Es waren 249 Menschen, darunter 69 Opfer des Faschismus (Hinrichtungen). Hinzu kamen 36 Kinderleichen, Früh- und Totgeborene aus der Universitätsfrauenklinik. Die Toten konnten nach den Untersuchungen endlich beerdigt werden.

Alvermann schlägt einen Bogen zur der Problematik des Verdrängens („Der vergessene Skandal“) über die Ermittlungen und Untersuchungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, den rechtlichen Rahmenbedingungen, wie zu den – weitgehend unbekannten – Regelungen über die Begräbnisordnungen, den Strukturbedingungen, der Auswertung der Statistiken bis hin zu dem Schlusskapitel „Ethik, Gedenkkultur und Opferkonkurrenz“. Damit knüpft er Fäden wieder zusammen, die in der zum Teil hochspezialisierten „Euthanasie“forschung oft auseinander gerissen werden. Er betont die Notwendigkeit, Orte des Gedenkens an die Opfer zu haben und zwar für alle Opfer, nicht nur für diejenigen, die in der jeweiligen Zeit oder in der heutigen Erinnerung politisch genehm sind.

Das Buch beginnt mit einem Beitrag von Mathias Rautenberg mit dem Titel „Politische Herrschaft – Ressourcenkonstellationen – Anspruch akademischer Freiheit“. Hier werden Fragen aufgeworfen und Thesen aufgestellt, die für die gegenwärtigen, aktuellen Ost-West-Diskussionen zentral sind, z.B. die Fragen nach Kontinuitäts- und Diskontinuitätslinien und dem Zusammenhang zwischen Konkurrenzen etwa im Kollegenkreis mit dialektischen Zusammenhängen notwendiger Solidarisierungen in altruistischen Bewegungen. Er schreibt: „Menschen können in der ignoranten Richtung konditioniert werden – wie die Geschichte zeigt, jedoch nicht straflos, weder für sich noch für die Gesellschaft“ (S. 22).

Die Vorgeschichte der Greifswalder Universität und ihre „Rechtslastigkeit“ zwischen 1918 und 1933, der mangelhafte Widerstand gegen die Gleichschaltung, der Prozess der Radikalisierung vieler Studenten und die äußeren Rahmenbedingungen der Zeit ergeben ein spannendes und differenziertes Bild der Hochschullandschaft. Für die weniger „nationalistisch“ politisierten Studenten stellt Rautenberg fest, dass die Studenten auf die Einschränkung ihrer Freiräume mit dem Versuch reagierten, sich zu entziehen oder durch verschiedene Formen von „Resistenz“. Seinen eigenen Beitrag nennt der Autor einen Erklärungsversuch und macht damit das Unabgeschlossene jeder Forschung deutlich.

Mit den kritisch-detaillierten Überlegungen und Beiträgen ist das Buch geradezu ein Musterbeispiel für eine NS-Forschung, die weit über den Rahmen der Greifswalder Universität hinaus sowohl bei der Methodik, als auch in der Fülle und Weite der angesprochenen Themen für die gesamte Universitätsforschung zur die NS-Zeit als Vorbild dienen kann.

Bonn, Oktober 2019

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„…die letzten Schranken fallen lassen“
Studien zur Universität Greifswald im Nationalsozialismus
Herausgegeben von: Dirk Alvermann
Verlag: Böhlau Verlag 2015, 407 S., 39 s/w-Abb.
ISBN: 978-3-412-22398-4

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