31.03.20: Zur Sterbehilfe-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Am 26. Februar 2020 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe entschieden, dass der seit Dezember 2015 gültige §217 Strafgesetzbuch mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Mit §217 wurde die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt. In Absatz 1 wird dazu ausgeführt: „Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Diese Bestimmung ist nach der nun erfolgten BVerfG-Entscheidung mit den Persönlichkeitsrechten nach dem Grundgesetz nicht vereinbar. Grundlegend hierfür sei Grundgesetzartikel 2 Absatz 1 „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit…“ in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diese Grundrechte umfassen laut BVerfG auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck persönlicher Autonomie. Dazu heißt es in dem Urteil: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“ Und an anderer Stelle: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“

Reaktionen

Erwartungsgemäß folgten dem Urteil gegensätzliche Reaktionen. Einerseits Frohlocken auf Seiten der sog. Sterbehelfer: „Das ist ein großer Tag für die Schwerkranken in Deutschland, die schon lange auf ein solches Signal warten“, freut sich Professor Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). In ihrer Pressemitteilung vom 26. Februar erklärte die DGHS zudem: „Nach dem heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 217 StGB, der seit dem Jahr 2015 die Hilfe zur Selbsttötung (mit wenigen Ausnahmen) verbot, stehen nun die Vorzeichen gut, dass den Patienten im Bedarfsfall bald wieder deutlich mehr Optionen offen stehen.“

Unter Menschen mit Behinderungen stößt das Urteil aber auf Ablehnung. Ein Ausdruck davon ist ein Positionspapier, das der behinderte Linken-Politiker Ilja Seifert initiiert hat. Unter dem Titel: „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung als höchster Grad freier Selbstbestimmung? Wir sagen NEIN!“ werden Selbstverständlichkeiten benannt, die im herrschenden Diskurs besonders in den Parteien der sogenannten „demokratischen Mitte“ längst nicht mehr selbstverständlich sind. Zum Beispiel:

„Was ist das für eine Gesellschaft, die das Sterben über das Leben stellt? Die Realität zeigt: In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, sind Tausende Menschen obdachlos. Menschen erfrieren im Winter auf der Straße. Menschen sterben aufgrund eines politisch geduldeten Pflegenotstandes in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Menschen werden krank aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen. Sind sie nicht mehr wirtschaftlich verwertbar, werden sie aussortiert. Menschen mit Behinderungen wird ständig vorgerechnet, dass der Ausgleich von behinderungsbedingten Nachteilen unter Kostenvorbehalt stehe. Und sind Menschen arm, sterben sie bis zu zehn Jahren früher. All diesen Menschen, denen man keine Selbstbestimmung im Leben zuteilwerden lässt, will man nun einen ‚selbstbestimmten‘ Tod ermöglichen? Welche Heuchelei! Welcher Zynismus!“

Und in der Tat regt sich kaum jemand auf, wenn wie in den zitierten Fällen tagtäglich tausendfach das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde mit Füßen getreten werden. „Es geht in dieser Gesellschaft immer um die Frage, ob und in welchem Maße Menschen wirtschaftlich verwertbar sind oder ob sie aufgrund von Alter, Krankheit oder Behinderungen Kosten verursachen. Dafür wird das Lebensrecht von Menschen in Frage gestellt.“ So steht es an anderer Stelle der Stellungnahme.

BRD 1989

Inzwischen sind wir in Deutschland weit gekommen mit der Infragestellung des Lebensrechts von Menschen mit Behinderungen oder anderen Abweichenden. Kaum bekannt ist noch die Tatsache, dass Krüppel- und Behinderteninitiativen im Bündnis mit Frauen- und Antifa-Gruppen vor dreißig Jahren gegen den australischen Peter Singer protestierten und sein Auftreten verhinderten. Singer vertrat und vertritt die These, behinderte Neugeborene zu töten, weil deren ökonomische, soziale und moralische Lebensperspektiven nicht denen eines nichtbehinderten Kindes entsprächen. Oliver Tolmein schrieb damals in der Zeitschrift „Konkret“ Nr. 5/1989 unter dem Titel „Terror der Normalität“:

„BRD, 1989: Das neue Vormundschafts- und Pflegerecht, das auch die Zwangssterilisation „nichteinsichtsfähiger Personen“ möglich macht, hat das Kabinett passiert; humangenetische Diagnoseprogramme werden in großem Umfang durchgeführt und die gewonnenen Erkenntnisse in der Regel umgesetzt: Abtreibung Behinderter; die Diskussion über als ‚Euthanasieaktionen‘ beschönigte Mordprogramme an Behinderten geht, nachdem 1986/87 spektakuläre Sterbehilfeaktionen von Julius Hackethal und der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben entsprechende Emotionen in allen politischen Lagern geweckt haben, in eine neue Runde. In einem Jahr, in dem die Demokraten aller Parteien den Kampf gegen den Rechtsextremismus im wesentlichen als ein Engagement für Ausländerfreundlichkeit und multikulturelle Gesellschaft betreiben, sind drei prägende Elemente des deutschen Nazismus – Zwangssterilisation, ‚Euthanasie‘, Eugenik – weitgehend enttabuisiert, ohne erkennbare Beunruhigung der ‚demokratischen Öffentlichkeit‘:“

BRD 2020

Oliver Tolmeins Sätze könnten heute geschrieben sein, trotz oder gerade wegen der Anschläge in Halle und Hanau, als unsere ach so verantwortlichen PolitikerInnen mit ihren gebetsmühlenartigen Sprüchen „Wir haben verstanden!“ eine Umkehr gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit anmahnen. Längst vergessen ist, dass vor fast vierzig Jahren deutsche HistorikerInnen eine intensive Debatte über die unterschiedlichen Rassismen im Nationalsozialismus thematisiert haben. Gisela Bock sprach in ihrem Buch „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus“ von 1986 vom anthropologischen und hygienischen Rassismus. Heute bezeichnen wir dies eher mit antisemitisch/ethnischen Rassismus einerseits und eugenischen Rassismus andererseits.

Im Jahr 2020, 75 Jahre nach der Befreiung des KZs Auschwitz, möge man sich die Worte des KZ-Überlebenden Eugen Kogon vergegenwärtigen. Zusammen mit Hermann Langbein und Adalbert Rückerl schrieb er in dem 1983!!! erschienenem Buch „Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas“: „Hat man schließlich die Opfer auf die jüdischen Bevölkerungsteile reduziert, so versucht man es so darzustellen, als wäre der Nationalsozialismus, von antisemitischen ‚Exzessen‘ abgesehen, nicht schlechter gewesen als so viele andere Regime in der Geschichte und Gegenwart. Verschleiert wird dadurch, dass der Judenmord nur ein Teil, allerdings ein essentieller, der gesamten mörderischen Praxis war.“

Eine Distanzierung von einem tumben Rechtsextremismus fällt leicht, während man/frau leichtfertig jene dem hygienischen Rassismus der Abtreibung, nachgeburtlicher oder altersbedingter „Euthanasie“ überantwortet, die den heutigen Leistungs- und Schönheitsidealen der Gesellschaft nicht oder nicht mehr entsprechen.

Der Historiker Götz Aly schrieb schon 1985 in seinem Aufsatz „Medizin gegen Unbrauchbare“: „Die am Individuum orientierte ‚Euthanasie‘-Diskussion ist das Thema einer Mittelklasse, die ihr Nicht-Verhältnis zum Sterben zu bewältigen versucht. … Diese Diskussion hat immer auch subjektive und objektive Auswirkungen auf den Lebenswillen und den Lebenswert schwerkranker und schwergeschädigter Menschen.“ Vergessen wird, so Aly in seinem Aufsatz „Der saubere und der schmutzige Fortschritt“, dass die Euthanasie-Planer den Krankenmord zur Rationalisierung und Modernisierung des Anstaltswesens nutzen wollten. Bis Ende 1941 sollte es nur noch 1500 Betten pro 1 Mill. Einwohner geben – 60% weniger Betten als 1939.

Ungeachtet der Tatsache, ob diese Planungen realisiert wurden, ihre penibel wirtschaftliche Vernünftelei liegt nicht weit entfernt von einer Studie der Bertelsmann Stiftung des letzten Jahres „Eine bessere Versorgung ist nur mit weniger Kliniken möglich“. Ein Studienergebnis lautet: „Es gibt zu wenig medizinisches Personal, um die heutige Klinikanzahl aufrechtzuerhalten.“ Statt mehr qualifiziertes Pflegepersonal zu gewinnen, sollen die Bettenzahlen den zu geringen Personalkapazitäten angepasst werden.

Noch einmal Aly: „Die faschistische Leistungs- und Vernichtungsgemeinschaft konstituierte sich von oben und von unten. Ökonomische Rationalität war zentral.“ Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Wächterrat der Grundrechte) fügt sich ein in diesen Diskurs. Es ist ein rassistischer Diskurs. Oder wie formulierte es der Psychiater Prof. Klaus Dörner in der „Singer-Debatte“ im Spiegel Nr. 34/1989:

„Während man Freiheit und Selbstbestimmung verabsolutiert, werden Gleichheit und Brüderlichkeit überflüssig. Sie werden durch den Glauben an die Machbarkeit einer Gesellschaft aus nur noch guten, sozialen, gesunden und glücklichen Menschen ersetzt.“

Volker van der Locht, Essen

Es gibt viele Arten zu töten.

Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen,
einem das Brot entziehen,
einen von einer Krankheit nicht heilen,
einen in eine schlechte Wohnung stecken,
einen durch Arbeit zu Tode schinden,
einen zum Suizid treiben,
einen in den Krieg führen usw.
Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.

Bertolt Brecht

Erschienen in: Newsletter Behindertenpolitik vom März 2020, Nr. 79, Seite 2 f., in BioSkop, Zeitschrift zur Beobachtung der Biowissenschaften, 23. Jg. Nr. 89, März 2020